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Seitenüberschrift: REISEBLATT
Ressort: Reiseblatt
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Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 06.11.2008, Nr. 260, S. R5
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Hauptsache, es holpert
nicht
Die Radreisewelle schwappt übers Land, etabliert sich als regionaler
Wirtschaftsfaktor - und verändert das Gesicht der Landschaft. Bisweilen so,
dass es den Radfahrer gruselt.
Von Gerhard Fitzthum
Das Gefälle nimmt zu. Der Radweg zieht nach rechts, um dann plötzlich eine
Haarnadelkurve nach links zu machen. Äste fegen einem um die Ohren,
unwillkürlich krallen sich die Hände am Lenker fest. Jetzt nur keine Wurzel
übersehen! Der Schwung reicht bis auf die nächste Kuppe. Oben angekommen,
grinsen die Kinder begeistert, die Eltern atmen hingegen erst mal tief durch.
Die wilde Passage ist Teil des nordhessischen Ederauenradwegs, der mit seinem
bescheidenen, an die Landschaft angepassten Format zum Unikum in der
deutschen Radreiselandschaft zu werden droht. Denn andernorts hat die
Erkenntnis, dass sich mit Radeltouristen gutes Geld verdienen lässt, eine
beispiellose Ausbaudynamik entfesselt. Wie zuvor in den Wandererrevieren
ringen jetzt auch die Radlerregionen des Landes um das perfekte Angebot -
samt Gütesiegel. Um mit zertifizierten Radwegen werben zu können, sind Länder und
Kommunen zunehmend bereit, viel Geld auszugeben.
Die Investitionsbereitschaft ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass
der Pedaltreter vor gar nicht langer Zeit noch als Saurier des
Mobilitätsfortschritts galt, den man getrost sich selbst überlassen konnte.
Spätestens in den sechziger Jahren war die Fortbewegung mit eigener Kraft zum
Anachronismus geworden, weshalb auch niemand aufbegehrte, als die Verbindungsstraßen
zwischen den Orten immer breiter wurden, Fußgängern und Radfahrern aber nicht
der kleinste Randstreifen zur Verfügung gestellt wurde.
Anzeichen für einen Bewusstseinswandel waren erst Ende der achtziger Jahre
auszumachen: Die darbende Fahrradbranche hatte mit dem Mountainbike ein
Hightech-Produkt auf den Markt gebracht, das das Negativimage der
körperlichen Selbstbewegung hinwegfegte. Das so schweißtreibende wie lautlose
Dahinrollen hatte plötzlich wieder Sexappeal. In der neuen Angestelltenkultur
galt nun als rückständig, wer sich den Errungenschaften der
Sportartikel-Industrie verweigerte und seine Ferien im Liegestuhl abdämmerte.
Für die ländlichen Regionen kam die Erfindung des Aktivurlaubs gerade noch
rechtzeitig. Denn mit dem Untergang der kassenfinanzierten
Kur war hier der touristische Notstand ausgebrochen. Rund um die Kur- und
Badeorte standen die Betten leer. Der Weg zu professionellen Angeboten für
Wanderer und Radler aber war noch weit. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), der sich
der Interessen der Radfahrer angenommen hatte, sah sich mit touristischen Entscheidern konfrontiert, die den Trend zur Besinnung
aufs Rad für ein vernachlässigbares Randphänomen hielten. Nur die
wenigsten von ihnen wollten glauben, dass sich dahinter ein potentieller
Wirtschaftsfaktor verbarg. Doch die rot-grüne Ära der Bundespolitik hatte
großzügige Finanzierungskonzepte für Radwege gebracht. Und diese Zuschüsse
wollte man sich nicht entgehen lassen.
So war zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts das Unglaubliche wahr
geworden: Jeder größere Flusslauf der Republik hatte nun einen durchgehend
markierten Radweg. An schönen Wochenenden rollen heute ganze Karawanen an
Weser, Main und Donau entlang, wobei die mit dicken Satteltaschen beladenen Mehrtagesfahrer
längst keine Minderheit mehr sind. Für die Elbe, dem seit Jahren beliebtesten
deutschen Radreiseziel, wurden in der letzten Saison 145000 Ferienradler
hochgerechnet, Tagesausflügler und einheimische Freizeitaktivisten nicht
mitgezählt. Der Radtourismus ist also keineswegs nur in den strukturschwachen
Regionen des Ostens zum ökonomischen Standbein geworden. Nach Schätzungen des ADFC
spült er jedes Jahr mehrere Milliarden Euro in die Kassen der heimischen
Fremdenverkehrsbranche. So haben sich im Bundesland Rheinland-Pfalz die
Investitionen in den Ausbau der Radwege nach nur zwei Jahren amortisiert:
Einer unabhängigen Expertise zufolge wurden dort durch den Radtourismus im
Jahr 2006 341 Millionen Euro erwirtschaftet.
Kein Wunder, dass der professionelle Ausbau des Wegenetzes nun überall zur
Chefsache geworden ist. In Landstrichen mit geringer Wirtschaftskraft kann es
sich kein Politiker leisten, eine derart sprudelnde Einnahmequelle wieder
versiegen zu lassen. Das neue Zauberwort lautet "Qualitätssicherung",
womit zuvörderst das Bekämpfen bestehender Missstände gemeint ist: die
Entflechtung der Radlerrouten vom Autoverkehr, die Beseitigung des
Markierungswirrwarrs und die vermeintliche Verbesserung der Fahrstreifen,
indem naturnahe Oberflächen durch versiegelte, rollfreundliche ersetzt
werden.
Selbst auf bundespolitischer Ebene scheint es mit der einseitigen
Privilegierung des Autoverkehrs zu Ende zu gehen. Trotz konjunkturbedingten
Kürzungen gibt das Verkehrsministerium jährlich achtzig Millionen Euro allein
für den Radwegebau an Bundesstraßen aus. Zudem wurde im Jahr 2002 ein
Nationaler Radverkehrsplan verabschiedet. Die Radfahrer sollen nun genau das
erhalten, was dem Mobilitätsbewusstsein der siebziger Jahre unvorstellbar
schien - ein bundesweites Netz von durchgehenden Radwegen, auf denen sie von
den Gefahren des modernen Straßenverkehrs weitestgehend verschont bleiben.
Der Blick auf die erfolgreichen Initiativen des "Velolands Schweiz"
zeigt freilich, dass noch viel zu tun ist. Eines der Desiderate ist die vom ADFC seit langem
geforderte zentrale Koordinierungsstelle für den Radtourismus. Zudem
müssten die Fördergelder noch einmal drastisch erhöht werden, vor allem, wenn
man an die wachsende Schar aktiver Rentner denkt, die nicht immer auf denselben
Wegen fahren wollen, aber auch im Blick auf den Klimawandel. Um die
hochgesteckten Reduktionsziele der Bundesregierung zu erreichen, braucht es
auch eine Erhöhung des Anteils der Radfahrten am Gesamtverkehr. Dafür müsste
die Politik Anreize schaffen, die nicht nur symbolische Valenz haben - ein
steuerlich gefördertes Umweltticket etwa. Schließlich müsste das Management
der Deutschen Bahn dazu gebracht werden, seinen beharrlichen Widerstand gegen
den Fahrradtransport im Fernverkehr aufzugeben.
Andererseits birgt der Aufstieg des Radfahrens zum Regionalentwicklungsfaktor
auch Gefahren, die im Eifer des Gefechts übersehen werden. Denn mit dem
Angebot scheinen die Ansprüche an Streckenführung, Service und Ausbaustand
ins Maßlose zu wachsen. Das Wegenetz für Freizeitradler soll nicht nur
engmaschiger, sondern auch immer komfortabler werden. Überall dort, wo die hochgeschraubten
Ausbaustandards nicht erreicht werden, rümpft die Radfahrer-Lobby bereits die
Nase. So zeigen ADFC-Referenten bei Powerpoint-Präsentationen traumhafte
Alleen, durch die ein erdiger Naturweg führt - als
Beispiel dafür, wie es der Radfahrer keinesfalls haben will. Dass es
Radreisende gibt, die von einem solchen Szenario entzückt sind, bleibt dabei
so unbedacht wie die Frage, was die gewünschte Asphaltierung für die Wanderer
bedeutet.
Wie weit das Anspruchsdenken inzwischen gediehen ist, zeigt ein Reiseführer
des Mainradwegs. Obwohl es sich um eine der teerreichsten Langstreckenrouten
des Landes handelt, entschuldigt sich der Autor fast dafür, dass es am
Obermain zwischendurch auch über Naturwege geht. Geradeso, als handele es sich um einen
unzumutbaren Ausbaumangel, empfiehlt er dann schon mal eine Ausweichstrecke -
groteskerweise über die Autostraße, die allerdings
wenig befahren sei. Die Begegnung mit dem motorisierten Verkehr, dem
eigentlichen Widersacher des Radelvergnügens, scheint inzwischen wieder das
kleinere Übel zu sein - Hauptsache, es holpert nicht.
Ausdruck dieser Blickverengung ist das Zertifizierungsverfahren, das der ADFC
den Tourismusregionen seit dem vorigen Jahr als kostenpflichtigen Service
anbietet. Es besteht darin, die wesentlichen Qualitätselemente der Route zu
quantifizieren. Die Gesamtpunktzahl berechnet sich durch die Addition der
Punkte, die in den Bereichen Befahrbarkeit, Oberfläche, Wegweisung,
Routenführung, Sicherheit, touristische Infrastrukur,
Anbindung an öffentlichen Nahverkehr und Marketing erreicht werden. Gewichtet
werden die genannten Aspekte dabei mit jeweils zwischen fünf und zwanzig
Prozent. "Glatter
Asphalt" bekommt dabei pro Kilometer Strecke zwei, eine "wassergebundene
Decke", selbst wenn sie "gut befahrbar" ist, hingegen
nur einen Punkt und
wellige, "unebene"
Oberflächen allenfalls einen halben.
Naturnahe Wege werden so
höchst effizient abqualifiziert.
Ob sich darin das Interesse des Radlers spiegelt, ist fraglich. Der ADFC, der bei der
Modernisierung des Radwegenetzes bundesweit das Beratungsmonopol hat, kann sich hierbei nicht einmal
auf seine Mitglieder berufen. Umfragen über die auflagenstarke
Vereinszeitschrift ergaben, dass mehr als sechzig Prozent der Radler eine
"eindeutige und durchgängige Wegweisung" und das
"Landschaftserlebnis" als "sehr wichtig" einstuften,
danach folgen mit fünfunddreißig Prozent die "verkehrsfreie
Streckenführung", mit einundzwanzig Prozent "breite und sicher zu
befahrende Radwege" und mit achtzehn Prozent "Unterkunft und
Gastronomie an der Strecke". "Glatte asphaltierte Oberflächen" empfindet nur jeder
Zehnte als "sehr wichtig", nur das Interesse an
"kulturellen Angeboten" ist noch geringer. Selbst wenn man die
große Gruppe mitzählt, die glatten Asphalt als "wichtig"
bezeichnet, bleiben die Befürworter von Teerauflagen eine Minderheit - im
krassen Widerspruch zur Logik des Zertifizierungsmodells.
Wirklich repräsentative Umfrageergebnisse liegen in diesem Zusammenhang nicht
vor, nicht einmal aus der Schweiz, wo der Boom-Markt "Radtourismus"
bisher am professionellsten untersucht wurde. Peter Anrig,
der Geschäftsführer der Stiftung "SchweizMobil"
(vormals "Veloland Schweiz"), verweist jedoch auf seine Erfahrung,
dass "der Fernradler gute, nicht asphaltierte Strecken durchaus
akzeptiert", sie also zumindest nicht generell ablehnt.
Das Hauptproblem des aktuellen ADFC-Zertifizierungsmodells liegt darin, dass
das Kriterium des Abwechslungsreichtums im Unterschied zur
Qualitätsbestimmung der bundesdeutschen Wanderorganisationen nur eine
untergeordnete Rolle spielt. Um Höchstpunktzahlen in den Schlüsselbereichen
"Befahrbarkeit" und "Oberfläche" zu erhalten, braucht man
eine drei Meter breite, lückenlos asphaltierte Rollbahn ohne jede Unebenheit
- eine uniforme Schneise durch die Landschaft, kurz: eine Zweiradautobahn.
"Was bei der Zertifizierung der Wanderwege Höchstnoten ergibt, ergibt
bei den Radwegen Minuspunkte", bringt es Rüdiger Grebe
auf den Begriff. Als Architekt des naturnahen Ederauenradwegs vertritt er
eine differenziertere Position: "Authentisch wirkt ein Radweg nur dann,
wenn er zu seiner Umgebung passt. Führt er durch Industrie- und Siedlungsgebiete, sind asphaltierte
Oberflächen angemessen, Passagen durch Naturlandschaften erfordern hingegen wassergebundene Decken, zumindest dort, wo der Weg von
Biotopen flankiert wird." Nehme man statt Teer Feinschotter aus
dem örtlichen Steinbruch, so verliere der Radweg sogleich den Charakter eines
Fremdkörpers. "Die Trasse bildet mit seinem Umfeld dann eine ästhetische
Einheit, was nicht nur den Erlebniswert des Radlers erhöht, sondern zugleich
auch der Umwelt nützt." Eine Art Gegenmodell bietet der hessische Vulkanradweg, den
der Lehrer aus Bad Berleburg "eine Radlerautobahn durch den
Vogelsberg" nennt. Er entstand durch den Umbau der aufgelassenen
Bahnlinie von Frankfurt nach Lauterbach. Weil die Trasse für Dampfloks
konzipiert wurde, sind die Steigungen so marginal wie die
Richtungsänderungen. Um auch Inline-Skater und
Rollskifahrer zu bedienen, entschied man sich für ein zweieinhalb Meter
breites Band aus Feinasphalt, das wegen seines speziellen Belagaufbaus weder
Buckel noch Senken noch Risse aufweist.
So angenehm das Befahren einer homogenen Asphaltfläche für den Reiseradler
auch ist - es birgt die Gefahr des Sättigungseffekts. Auf einer solch
ereignisarmen Piste verabsolutiert sich jener "panoramatische"
Blick, den die Technikkritiker des frühen neunzehnten Jahrhunderts an der
Zugreise moniert hatten: Statt die Umgebung mit allen Sinnen zu erleben,
bekommt sie Kulissencharakter - sie surrt vorbei wie ein Film. Der Weg
verliert seine Gegenständlichkeit, wird zu einer Art Nullmedium ohne jeden
Erlebniswert. Die Folge ist ein seltsames Entrücktsein,
das sich auf Dauer auch als Langeweile niederschlagen kann - als geistiges Abtauchen, das
am Vulkanradweg für einen Teil der vielen Unfälle verantwortlich sein dürfte.
Freilich steht ein Produkt wie der Vulkanradweg nicht in Gefahr, dadurch
seine Anziehungskraft zu verlieren. Dafür ist die Kulturlandschaft zu intakt,
das Panorama zu faszinierend und die Stille zu überwältigend. Derart
glückliche Rahmenbedingungen haben aber die wenigsten der zweihundert
deutschen Radfernwege. Auch und gerade bei den beliebten Flussradwegen stören
neben einer einfallslosen Wegeführung meist der Auto- und Zugverkehr sowie
wuchernde Neubau- und Gewerbegebiete. Da braucht es mehr als anderswo
gelegentliche Format- und Belagwechsel, mit denen sich auch das Rollgeräusch
ändert.
Andererseits fragt sich, ob das, was Rüdiger Grebe
am Vulkanradweg bemängelt, nicht gerade seine Erfolgsgarantie ist. Denn die
Fortsetzung der Eisenbahnfahrt mit den Mitteln der Muskelkraft scheint
bestens zum Naturverständnis des heutigen Menschen zu passen. Im
gegenwärtigen Freizeitbetrieb ist die Natur entweder Gegner, der im Dienste
der Ich-Stärkung niedergerungen wird, oder widerstandslos konsumierbare
Kulisse.
Der ADFC ist sicher nicht die Speerspitze dieser Entfremdungskultur. Im
Dienste der Kundenorientierung scheint er sich dieser aber anzupassen. Von
der großen Masse der Tagesausflügler werden wohl tatsächlich nur solche
Radwege angenommen, auf denen es steigungs- und holperfrei dahingeht. Dieser
Mehrheit zuliebe wird das Land nun mit der gleichen blinden Radikalität
fahrradgerecht gemacht, wie es vor vierzig Jahren den vermeintlichen
Bedürfnissen des Autofahrers angepasst wurde; "blind" deshalb, weil
Verluste und Verlierer ignoriert werden. Letztere sind natürlich die Wanderer,
die durch die Asphaltierungswelle aus den Flusstälern vertrieben werden, und
die Natur - von breiten Teerstreifen durchzogen und zerschnitten. Erstaunlich, dass die
Naturschutzverbände sich in dieser Frage kaum zu Wort melden. Das Öko-Image
des Radfahrens ist wohl einfach zu stark.
Übersehen wird dabei, dass übertriebene Ausbaustandards so kontraproduktiv
sein könnten wie einst beim Ausbau des deutschen Straßennetzes. Die
Autofahrerlobby hatte sich für perfekte Beläge, Kurvenbegradigungen und breitere
Fahrbahnen eingesetzt. So entstand ein Netz von Schnell- und
Umgehungsstraßen, bei denen mit den Unbequemlichkeiten auch die Reize des
Unterwegsseins verlorengingen. Wo sich einst ein intensives
Fahrerlebnis einstellte, war jetzt plötzlich nur noch dumpfes Dahinsteuern
möglich.
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